Versucht man das Werk von Michael Wendt in eine Formel zu bringen, dann kann man Botho Strauß zitieren, der den Vorgang des Schreibens als den beharrlichen Versuch, »das Erinnern neu zu erfinden«1, beschreibt als einen Prozess des sich weiter und weiter in die Vergangenheit Fortschreibens. Auch Michael Wendts fotografische Arbeit thematisiert Erinnerung, man kann sagen, sein Werk dekliniert eine Grammatik des Erinnerns. Sich erinnern heißt, eine Erfahrung ein zweites Mal zu durchleben und, wie der kanadische Gedächtnisforscher Endel Tulving sagt, "eine geistige Zeitreise zu unternehmen".
Die Zeitreise ist verbunden mit der unverwechselbaren Erlebnisqualität des 'Sich-selbst-Zurückdenkens'.
In der Erinnerung kehren die sinnlichen Aspekte des Erlebnisses
(der Geruch von Farbe, lodernde Flammen) ins Bewusstsein zurück. Auch
wie man sich fühlte, was man dachte und wie man
die Situation bewertete – all das präsentiert sich dem Geist«2 während des Erinnerns.
Doch wie funktioniert die Erinnerung? Sie lässt sich nicht steuern, sie überrascht uns mit ihren
Bildern und Impressionen. Erinnern ist kein planvoller Vorgang, es entzieht sich der bewussten
Einflussnahme.
Die Wissenschaft unterscheidet zwischen drei Arten
der Erinnerung. Nur das episodische Gedächtnis,
von dem hier die Rede ist, bringt die Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Bewerkstelligt
wird diese Gehirnleistung von so genannten Ortszellen, die eine wichtige Rolle bei der
räumlichen Navigation spielen. Gemeinsam signalisieren diese Ortszellen Gegenwart, Vergangenheit
und Zukunft. Anders ausgedrückt: Die Neuronen verknüpfen einen gegenwärtigen Inhalt (den aktuellen
Aufenthaltsort) mit einem vergangenen oder zukünftigen Inhalt (dem früheren oder
zukünftigen Aufenthaltsort). Die beiden anderen Grundformen des Gedächtnisses – das Faktengedächtnis
und das prozedurale Gedächtnis - ermöglichen keine solchen geistigen Zeitsprünge.
Wenn ein Foto deckungsgleich mit dem vertrauten Erinnerungsbild ist, wird dem Foto Authentizität
und Wahrheitsgehalt attestiert.
Michael Wendt unterläuft mit seiner fotografischen Methode diesen trügerischen
Zusammenhang zwischen der Erinnerung und scheinbarer fotografischer Objektivität.
Indem er Fotografien aus alten Familienalben und Postkarten seiner Reisen als
Ausgangsmaterial wählt und diese Bilder erneut abfotografiert, sind nur noch bedingt
Rückschlüsse auf das vorgefundene Bildmaterial möglich. Wobei sich der Komplex der Fotografien aus alten
Familienalben als Werkphase deutlich von den jüngeren Bildern unterscheidet, weil die
Zeit, in der sie entstanden sind, wieder lebendig wird.
»Rom, 1962« ist der Titel einer Fotografie. Die weibliche Person im Vordergrund und
das Portal im Hintergrund sind gleichermaßen verschwommen. Vermutlich ist die Frau
zufällig vor die Linse des Fotografen geraten; die Unschärfe verleiht der Person Dynamik,
die auch die Architektur zu ergreifen scheint. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt
bei dem jungen Mann, der seinerseits wie ein stiller Beobachter in der Situation
verharrt.
Der dokumentarische Charakter der Fotografie ist hier aufgegeben,
und auch der biografische Aspekt des Michael Wendt Fotoalbums ist getilgt. Vielmehr
wird das urbane Lebensgefühl dieser Metropole erkennbar, wie man es aus dem Kino aus
den vielen unvergessenen Filmen dieser Jahre kennt.
Für das diffuse Spiel mit der Unschärfe benutzt der Künstler eine Spiegelreflexkamera
mit einer speziellen Optik. Die Linsen der Objektive sind von ihm neu angeordnet worden.
Außerdem bewegt er während der Belichtung die Kamera und setzt mit der Fotolampe
Lichtpunkte. Das Ergebnis: Unscharfe Bilder, unterbrochen von einzelnen klaren
Zonen, suggerieren einen filmischen Effekt - vergleichbar einem dynamischen Kamerazoom.
Michael Wendts jüngere Fotoarbeiten sind Bildausschnitte aus großer Distanz,
wie mit dem Fernglas beobachtet. In der Darstellung einer Seenlandschaft,
»Seeinsel«, 2003, bleibt der Betrachterstandpunkt
ein entfernter: Kleine Häuser mit roten
Dächern am Seeufer besiedeln das Bild, umgeben
von Bäumen mit buschigen Baumkronen, die alle
einen exakten Schatten werfen. Unwillkürlich
sucht man in dem Bild nach Fehlern, nach dem
Unechten. Der Künstler spricht hier selbst von
»Faller Welten«, diesen miniaturisierten Märklinlandschaften,
Relikte einer fernen Kindheit, die, wie
Botho Strauß es formuliert, »gegen ein würdeloses
Erwachsenenleben« verteidigt werden müssen.
Eine Nähe entsteht zu den geistigen Zeitsprüngen
des episodischen Gedächtnisses, wie sie
die Wissenschaft beschreibt, wenn Michael Wendt
Fotografien von Menschen bearbeitet.
Das Foto «Auf der Heide, 2003» zeigt eine Gruppe von drei
Personen, alle in einer dynamisch- en Bewegung
begriffen. Sie sind frontal hell beleuchtet, strahlen
geradezu, befinden sich miteinander in einer
Aktion, deren Bedeutung offen bleibt. Die drei
Personen sind zwar zentral in der Mitte der
Bildfläche positioniert, doch ihre gedehnten, verzerrten
Gesten binden sie links, von wo sie kommen - und rechts, wohin sie streben -, an die
Bildränder. Vergangenheit, Gegenwart und das
Zukünftige scheinen in dieser Fotografie linear aufgereiht,
miteinander verbunden zu sein. Die drei
Personen wirken wie in ein Gespräch vertieft, wähnen
sich unbeobachtet. Als Betrachter glaubt man
den Wind zu spüren und die Wärme der Sonne auf
ihren Gesichtern sowie die Eile, von der sie getrieben
scheinen. Das Foto zeigt nicht nur eine
Episode aus einem Handlungsablauf, vielmehr wird
darin ein komplexer Erlebniszusammenhang als
Erinnerungsbild aktiviert.
Michael Wendt, so könnte man behaupten,
schafft Fotografien mit filmischen Erlebnisqualitäten
oder schweifenden Erinnerungen, als ob man während einer langen Eisenbahnfahrt
aus dem Fenster schaute.
© Barbara Claassen-Schmal
in: Katalog swb-Galerie, Herausgeber Katerina Vatsella u. swbAG, Bremen, ISBN 3-89757-248-6
1 Botho Strauß, Der Untenstehende auf Zehenspitzen, Hanser, 2004
2 Guido Speiser, Da war doch noch was? Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 11, 2004